Das letzte Testament von Wissarion
Die unendlichen Weiten Sibiriens bieten Platz für die
unterschiedlichsten Gruppen.
Auch die Anhänger des letzten Testamentes zelebrieren ihre
Lebensform in der Abgeschiedenheit nach der Devise: zurück zur Einfachheit, zurück
zur Natur!
Beim Zerfall der Sowjetunion 1991 hatte ein junger Mann die Vision, dass er
der wiedergeborene Jesus sei. Das Land braucht einen, der die Richtung vorgibt,
der den Weg weist in eine bessere Zukunft.
Und tatsächlich, es folgten ihm Gleichgesinnte in den
sibirischen Wald, dort wo die dicksten Bremsen stechen, die grössten Mücken
schwirren, die Sonne vom Himmel sticht oder die eisige Kälte durch Mark und
Bein dringt. Von Hand fällen sie die ersten Stämme, um auf einer Lichtung Platz
für ein Dorf zu schaffen. Einfache Holzhäuser entstehen auf einem Berg, nahe
dem See Tiberkul. Die nächste grössere Stadt, Abakan, liegt ca. 220km westlich
davon.
Mittlerweile sind rund 4000 Anhänger in die umliegenden
Dörfer gezogen.
Der Wissarion, der Lehrer, wie er sich selbst nennt,
residiert auf einem, nur zu Fuss zu erreichendem Berg. Die Anhänger steigen jeweils
aus ihren Dörfern hinauf, um ihrem Lehrer zu huldigen. Er gibt Audienzstunden
und beantwortet Fragen seiner Anhänger.
Diese weisen Antworten werden schriftlich im „letzten
Testament“ festgehalten.
Wir selbst haben den Lehrer nicht persönlich getroffen. Wir haben über ihn und seine Antworten gelesen
und uns einen Film angeschaut.
Seine Anhänger aber haben wir angetroffen und fühlten uns um
Jahrzehnte zurückversetzt. In die Zeit von Hippie Kult, Flower Power und Hare
Krishna!
Weiss gewandet schreiten die Mitglieder daher, Richtung
Gebetshaus. Ein seeliges Lächeln auf ihren Gesichtern. Wir werden überschwänglich
begrüsst, sie winken und zeigen uns ihr Glück! Ob dies für den Rest ihres
Lebens anhält?
Dass im Laufe des Lebens der Wunsch entsteht, die Lebensform
komplett umzukrempeln, das können wir nachvollziehen. Warum braucht es dazu
einen Lehrer, der alles besser weiss als alle andern, sich als neuer Jesus
aufspielt und den Anhängern sagt, was sie zu tun und zu lassen haben?
Die Dörfer am Fluss Kazyr, in denen viele Mitglieder der
Gemeinschaft wohnen, unterscheiden sich architektonisch nicht von anderen
russischen Dörfern.
Der Unterschied liegt im Detail. So viele Fahrräder und Rucksäcke
wie hier sehen wir sonst nirgends. Alle tragen Hüte und Kappen, es ist
ersichtlich, dass sie keine Bauern sind. Ein Second Hand Shop und gar eine Wandmalerei
in englisch sehen wir nur hier in Petropavlovka, dem grössten Dorf am Fluss.
Lassen wir nun den Lehrer zu Wort kommen.
Sergej Anatoljewitsch Torop residiert in der „Heimstatt der
Morgendämmerung“, der Kernsiedlung auf dem Berg beim See Tiberkul. Jeden Sonntag tifft er sich
mit seinen Jüngern. Sie leben nach der Devise: Alle helfen allen, niemand
fordert etwas, niemand hat Schulden, alle haben genug zum Leben!
Auch in der Heimstatt der Morgendämmerung entstehen beim
Zusammenleben Konflikte. Und so wird der Lehrer um Rat gefragt. Seine Antworten
sind umschweifend, oft nicht auf die
Frage bezogen und der Ratsuchende ist so klug wie zuvor.
Alle seine Antworten werden von seinem „Sekretär“ Wadim
Redkin, einst bekannter Sänger, getreulich aufgeschrieben und als neue Weisheit
ins letzte Testament aufgenommen, das wie die Bibel strukturiert ist, obschon
die Gemeinschaft sich als nicht religiös ansieht, sondern als Verfechter einer
neuen Lebensform.....
Ein Beispiel: Ein Mann fragt den Lehrer, warum Menschen
ständig von Mücken gestochen werden und andere beinahe nie. Was bedeutet dieser
Unterschied? Stechen Mücken lieber Heilige oder Sünder?
Seine Antwort: Versetzt euch an die Stelle der Mücke. Würde
sie sich auf etwas stürzen, dessen Verzehr sie ekelt? (LT 6,28,23)
Eine Frau fragt den Meister, warum die Kreativität bei den
Bauten der Häuser nachgelassen hat. Sie kann nicht mal ausreden, der Lehrer
fällt ihr ins Wort und schwadroniert über das kreative Schaffen in der
Siedlung, dass dies früher wichtiger als heute gewesen sei und lenkt gleich auf
die eigene Person. Auch mit den Worten, dass sein Programm auf Generationen,
auf Jahrhunderte, auf die Ewigkeit ausgerichtet sei! Alle schüchternen Einwände
werden abgeblockt.
Auf die Frage von Jens Mühling, einem Journalisten: „Was
geschieht, wenn sie einmal nicht mehr da sind?“ gibt Wissarion amüsiert Antwort: „Es werden
Schüler bleiben“ sagt er. „und es wird eine Schrift bleiben, die keine Fragen
offen lässt. Es wird nicht nötig sein, Kommentare zu schreiben, die meine Worte
verfälschen, wie es in der Vergangenheit so oft geschehen ist!“
Wadim, der Evangelist, nickt heftig. Wissarion sucht seinen
Blick, wissendes Lächeln quert den Raum. Sie sind ein eingeschworenes Team, sie
haben sich abgesichert gegen die Fehler ihrer Vorgänger.
Ihr Plan ist wasserdicht, ihr Testament das letzte!
Weitere Informationen unter:
Jens Mühling: Mein russisches Abenteuer (Dumont- Verlag)
Film in 3 Teilen: Jesus Sibiriens von Rocco Castoro
www.vice.com/de
the-vice-guide-to-travel/jesus-of-sibiria
Das Ortsschild von Petropavlovka |
mitten im Ort |
der Dorfladen, sehr bescheiden |
zwei Anhängerinnen von Wissarion mit Rad, Hut und Rucksack |
nicht ganz so bescheiden, die Kirche Wissarions |
Dorfbewohner |
gut ausgebildete Menschen glauben an Wissarion und folgen ihm... |
die Kinder der Anhänger werden in eigenen Schulen nach den einseitigen Überzeugungen von Wissarion unterrichtet |
sonntäglicher Kirchgang im Dorf Cheremshanka |
die Kirche in Cheremshanka |
kaum angehalten, überfallen uns die Bremsen (Brämen) zu hunderten! Zufall oder Wissarions Wille? |
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