Eine Mennonitengemeinschaft in Filadelfia

 


 

Der Parkplatz des Supermarktes Fernheim in Filadelfia ist an diesem Samstag im August 2022 voll. Geschäftig werden die Einkäufe in die grossen Pickups verstaut.

Wir treten in den riesigen Laden ein und flanieren an den Gestellen entlang. Überall stehen Leute zusammen, plaudern, lachen und schwatzen, man erzählt sich den neuesten Tratsch. Teenager begegnen sich zwischen Keksen und Chips und man behält sich genau im Auge!

Bei den Pflegeprodukten stehen zwei junge Frauen, in langen Kleidern, langen Haaren und einem Band um den Kopf. Die eine hält ein Baby auf dem Arm, die andere ist mit Kleinkind und zwei grösseren Kindern unterwegs. Sie sehen aus, wie unsere Grossmütter in jungen Jahren ausgesehen haben! Interessiert riechen sie an einem Produkt und diskutieren darüber.

Wir glauben, in einem deutschen Einkaufszentrum gelandet zu sein – denn die meisten von den Kund/innen sprechen Deutsch miteinander.

Wie passen diese oft blonden und blauäugigen Leute nach Paraguay?

 

Das ist eine längere Geschichte, über die wir uns ausführlich im Museum informiert haben.

 

Die Gemeinschaft der Mennoniten lebt nach den Worten der Bibel und der Ablehnung von Waffengewalt. Ebenso soll sich jedes Mitglied im jungen Erwachsenen Alter selbst entscheiden, ob es getauft und in die Gemeinschaft aufgenommen werden will. Deshalb nennt man sie auch die Täufer oder Wiedertäufer. Eine Schulausbildung für alle Kinder, Rechnen, Lesen, Schreiben und die Kenntnisse der Bibel ist auch das Bedürfnis der Gemeinschaft. Ein weiterer Grundsatz ist: erst die Gemeinschaft, dann der einzelne.

 

Ende des 18. Jahrhunderts wanderte eine Gruppe Mennoniten von Deutschland nach Russland aus und konnte unter der Zarin Katharina unbehelligt in der Region der heutigen Ukraine leben. Mit dem Beginn der Sowjetunion war dies nicht mehr möglich, die Mennoniten wurden verfolgt und enteignet, auch ihr Schulsystem und die Ablehnung der Waffengewalt passte den Sowjets nicht ins Konzept.

Möglichst viele der Gemeinschaft versuchten von Russland über das rote Tor in Lettland zu fliehen.

1930 lässt sich eine Gruppe von 2015 Mennoniten im Chaco nieder.

Die Gemeinschaft konnte rund um Filadelfia viel Land erwerben und mehrere Farmen und Dörfer errichten. Filadelfia wählten sie als ihr Verwaltungszentrum.

Der Name kommt aus dem Griechischen und heisst Bruderliebe.

 

Die folgenden Jahre sind gezeichnet von unermüdlichem Fleiss, Durchhaltewillen, vielen Verlusten und dank einem Millionenkredit von Amerika auch erfolgreichem Vorwärtskommen. Erst mal mussten sich die Leute in einem grundlegend anderen Klima behaupten, neue Anbaumöglichkeiten testen, dem trockenen und heissen Land Rechnung tragen. Das war hart und schwer.

Zur Förderung der Region trug der Ausbau der Infrastruktur, wie der Bau einer Flugpiste, und die Erstellung der Trans Chaco Strasse bei. Später, 1992, kam die Ernennung von Filadelfia als Hauptstadt des Departements Boquerón mit einer Fläche von über 91 669km2 und der Niederlassung der Verwaltungsbeamten in der Stadt hinzu.

 

Die Kooperation Fernheim in Filadelfia übernimmt bis heute die Administration der einzelnen Betriebe. Die Vermarktung der Produktevielfalt, die Verarbeitung von Fleisch, Milchprodukten, Käse, die Logistik liegt in ihren Händen. Der grosse Supermarkt, der daran angeschlossene gut ausgestattete Baumarkt und viele weitere Geschäfte gehören ebenfalls der Kooperation.

Die Gemeindemitglieder können sich ganz auf die Gemeinschaft verlassen, erhalten auch günstige Kredite und Unterstützung.

 

Der Chaco ist durch die Mennoniten urban gemacht worden, das betonen die Mitglieder mit Stolz und Selbstbewusstsein.

Mit allen produzierenden Farmen, der grossen Verarbeitungsindustrie ist der Chaco ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Paraguay geworden.

 

Die Erhaltung der deutschen Kultur und Sprache ist den Mitgliedern ein Herzensanliegen. Sie sind richtig stolz, mit uns Deutsch zu sprechen und fühlen sich noch immer, 92 Jahre nach der Ankunft in Paraguay (nachdem sie Jahre zuvor in Russland gelebt hatten) Deutsch- Stämmig.

 

Auch ihre Lebensweise wirkt auf uns sehr europäisch. Neben dem Supermarkt befindet sich ein riesiger Laden mit vielfältiger Auswahl an verschiedensten Stoffen, Faden, Bändern, alle Farben von Wollknäueln und vielen weiteren Handarbeitsartikeln! Im Laden treffen wir eine ältere Frau in grauem Rock, Strümpfen und soliden Schuhen. Auch das Band im Haar fehlt nicht. Es überrascht uns nicht, dass sie ein Mobiltelefon aus der Rocktasche nimmt und auf Deutsch nachfragt, wieviel Meter sie vom Stoff für die Tochter bringen soll!

Überall werden wir angesprochen, woher wir kommen, wer wir sind und früher oder später die unweigerliche Frage: «sucht ihr einen Ort zum Bleiben?»

 

Wer sich in einer kleinen und geschlossenen Gemeinschaft aufgehoben fühlt, der wird hier mit offenen Armen willkommen geheissen!

 

Danach wandern wir wieder über die staubige Strasse zurück, just in diesem Moment dröhnt die Werksirene los. Hier in Filadelfia «ruft» die Sirene morgens um 7 Uhr für den Arbeitsstart, dann um 11.30 Uhr, später um 13.45 Uhr als Vorwarnung, um 14 Uhr und schliesslich um 17 Uhr, um den Feierabend anzuzeigen.

Über die Mittagszeit schliessen alle Geschäfte, Museen und die Strassen leeren sich. Dafür stehen sie im Restaurant des Hotel Florida Schlange, um hier zu essen oder die Mahlzeit als take away mitzunehmen. Jeden Tag wird ein Buffet mit Salaten und warmen Gerichten aufgebaut. Das Hotel ist auch Teil der Fernheim Kooperation, entsprechend sind sehr viele der Gäste Mennoniten.

Es ist sicht- und spürbar, der Kolonie Fernheim geht es gut, ein gewisser Wohlstand ist durch den Fleiss und Hartnäckigkeit der Gemeinschaft Wirklichkeit geworden.

 

 

 

Die Auslegung und Lebensweise der verschiedenen Mennonitenströmungen reicht von liberal bis radikal.

Über die konservative Lebensweise der Mennoniten könnt ihr Euch zum Beispiel in den folgenden Artikeln informieren:

 

www.stern.de

Mennoniten in Bolivien: Das fürchterliche Idyll

 

www.derstandard.at

Strenggläubige Mennoniten: Buxtehude liegt in Boliven

 


die geteerte Hauptstrasse von Filadelfia


Eingang der Cooperative Fernheim


an einem Eckhaus an der Hauptstrasse prangt folgendes Schild auf Deutsch: Erziehung ist Verantwortung Aller


das ehemalige Gebäude der Kooperative ist heute Teil des Heimatmuseums


die Geschichte vom Schulhaus


heute beherbergt das hübsche Gebäude ein Hauswirtschaftsmuseum


an der Grenze Russland / Lettland: das rote Tor zur Freiheit


das Schild dazu


zum 85. Bestehen der Kolonie Fernheim wird das rote Tor nachgebaut


dazu die entsprechende Infotafel


im Museumsgarten steht dieses Prachtsexemplar von einem Flaschenbaum, darunter die antike Kutsche der Familie Penner


welche die Kutsche dem Museum zur Verfügung gestellt haben


die traurige Geschichte der Familie Stahl


eines der vielen Bücher im Museum


die Fluchtwege der Mennoniten nach Paraguay


zum 25. Jubiläum der Kolonie wurde dieser Stein gesetzt


Die Nebenstrassen in Filadelfia sind alle noch Naturstrassen. Der Staub ist hier allgegenwärtig

selbst über der Hauptstrasse schwebt er wie eine braune Dunstglocke


Defilée der Schulen anlässlich des Gedenktages der Gründung von Asunción  Das ganze Departement Boquerón ist vertreten


Jede Schule wird namentlich lobend erwähnt


vom Kreiseldenkmal aus haben die zahlreichen Zuschauer gute Sicht auf die Schulklassen


auf dem Rückweg eines der vielen Schilder auf Deutsch


Das moderne Gebäude der Agrar & Veterinaria. Die „Agroveterinaria“ der Kooperative Fernheim liefert eine Vielfalt von Produkten für die Tiergesundheit und Tierernährung.


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